Cynefin-Framework

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Das Cynefin-Framework [kə'nɛvɪn][1] ist ein Wissensmanagement-Modell mit der Aufgabe Probleme, Situationen und Systeme zu beschreiben. Das Modell liefert eine Typologie von Kontexten, die einen Anhaltspunkt bieten, welche Art von Erklärungen oder Lösungen zutreffen könnten.

Cynefin ist ein walisisches Wort, das üblicherweise im Deutschen mit 'Lebensraum' oder 'Platz' übersetzt wird, obwohl diese Übersetzung nicht seine volle Bedeutung vermitteln kann. Eine vollständige Übersetzung des Wortes würde aussagen, dass wir alle mehrere Vergangenheiten haben, derer wir nur teilweise bewusst sein können: kulturelle, religiöse, geographische, stammesgeschichtliche usw.

Der Begriff wurde von dem walisischen Gelehrten Dave Snowden gewählt, um die evolutionäre Natur komplexer Systeme zu veranschaulichen, einschließlich ihrer inhärenten Unsicherheit. Der Name ist eine Erinnerung daran, dass alle menschlichen Interaktionen stark von unseren Erfahrungen beeinflusst und häufig ganz davon bestimmt sind, sowohl durch den direkten Einfluss der persönlichen Erfahrung als auch durch kollektive Erfahrung wie Geschichten oder Musik.

Das Cynefin-Framework stützt sich auf Forschungen aus der Theorie komplexer adaptiver Systeme, Kognitionswissenschaft, Anthropologie und narrativer Muster sowie der evolutionären Psychologie. Es „untersucht die Beziehung zwischen Mensch, Erfahrung und Kontext“[2] und schlägt neue Wege vor für Kommunikation, Entscheidungsfindung, Richtlinienfindung und Wissensmanagement in einem komplexen sozialen Umfeld.

Das Cynefin-Framework wurde im Jahr 1999 im Kontext von Wissensmanagement und Organisationsstrategie entwickelt von Mary E. Boone und Dave Snowden.[3] Es war ursprünglich eine Modifikation von Max Boisots I-Space,[4] kombiniert mit dem Studium der tatsächlichen (im Gegensatz zur verkündeten) Management-Praxis bei IBM. Bis 2002 hatte es sich so weit entwickelt, dass es die Theorie komplexer adaptiver Systeme beinhaltete, und hatte begonnen, ein allgemeines Strategie-Modell zu werden.

Das Cynefin-Framework hat fünf Domänen.[5] Die ersten vier davon sind:

  • Clear (bisher "Simple" bzw. "Obvious") in der die Beziehung zwischen Ursache und Wirkung für alle offensichtlich ist. Die Herangehensweise ist hier Sense - Categorise - Respond, und wir können bewährte Praktiken (best practice) anwenden.
  • Complicated, in der die Beziehung zwischen Ursache und Wirkung eine Analyse, eine andere Form der Prüfung und/oder die Anwendung von Fachwissen erfordert. Hier geht man mittels Sense - Analyze - Respond heran, und man kann gute Praktiken (good practice) anwenden.
  • Complex, in der die Beziehung zwischen Ursache und Wirkung nur im Nachhinein wahrgenommen werden kann, aber nicht im Voraus. Hier ist der Ansatz Probe - Sense - Respond, und wir können emergente Praktiken (emergent practice) feststellen.
  • Chaotic, in der es keine Beziehung zwischen Ursache und Wirkung auf Systemebene gibt (wohl aber in der System-Umwelt, jedoch nicht erfahrbar). Hier ist der Ansatz Act - Sense - Respond, und wir können innovative Praktiken entdecken.

Die fünfte Domäne ist Disorder, der Zustand des Nicht-Wissens, welche Art von Kausalität besteht. In diesem Zustand gehen die Leute in ihre eigene Komfortzone zurück, wenn sie eine Entscheidung fällen. In vollem Umfang genutzt, hat Cynefin Sub-Domänen, und die Grenze zwischen „simple“ und „chaotic“ wird als katastrophale gesehen: Selbstzufriedenheit führt zum Scheitern.

Die Arbeit von Snowden und seinem Team begann zunächst in den Bereichen Wissensmanagement, kultureller Wandel und Gruppendynamik. Sie befassten sich später auch mit einigen kritischen Unternehmensprozessen, wie z. B. Produktentwicklung, Markterschließung und Branding. In jüngerer Zeit umfasste ihre Tätigkeit auch Fragen der Unternehmensstrategie und der nationalen Sicherheit.

Mit dem Cynefin-Framework wurden verschiedenste Themenbereiche analysiert, zum Beispiel der Einfluss der Religion auf die Entscheidungsprozesse innerhalb der George-W.-Bush-Regierung,[2] die Art der Reaktion auf Bioterrorismus sowie Untersuchungen zur Komplexität der Pflege im britischen National Health Service[6]. Das Framework wurde auch verwendet für die retrospektive Auswertung von Krisensituationen,[7] das Management von Risiken der Nahrungskette,[8] zum Studium der Interaktion zwischen Zivilisten und Militärs während des Katastrophenschutzes[9] sowie zur Erkennung von Mustern in den Fragen von Bürgern an (soziale) Serviceorganisationen.[10]

Das Cynefin-Framework und verwandte Open-Source-Methoden werden durch eine große und wachsende Gruppe von Praktikern weltweit umfangreich genutzt: die BT Group, IBM, Oracle Corporation und Microsoft sind die bekanntesten Beispiele.

Sein Einsatz im Rahmen der Führung wurde das Titelthema in der Harvard Business Review im November 2007.[11] Dieser Artikel wurde 2007 als das beste Praktiker-Papier im Bereich Organizational Behavior von der Organizational Behavior Division der Academy of Management bezeichnet, mit folgendem Zitat: „Das Papier führt eine wichtige neue Perspektive ein, die großen zukünftigen Wert hat, und tut dies in einem klaren Ansatz, der zeigt, dass sie genutzt werden kann. (Der Artikel) macht mehrere bedeutende Beiträge. Zuerst und vor allem führt er die Komplexitätswissenschaft als Anleitung zum Denken und Handeln für Manager ein. Zweitens wendet er diese Perspektive an, um eine Typologie von Kontexten voranzubringen, um Führungspersonen zu helfen, die Vielfalt der Situationen, in denen sie Entscheidungen fällen müssen, zu sortieren. Drittens berät er Führungskräfte darin, welche Aktionen sie als Antwort einleiten sollten.“[12]

  • Christopher Bellavita: Shape Patterns, Not Programs. In: Homeland Security Affairs. vol. II, no. 3, 2006, S. 1–21.
  • Joachim P. Sturmberg, Carmel M. Martin: Knowing – in Medicine. In: Journal of Evaluation in Clinical Practice. Volume 14 Issue 5, 2008, S. 767–770.
  • J. M. Firestone, M. W. McElroy: Key Issues in the New Knowledge Management. KMCI Press/Butterworth Heinemann, Burlington, MA 2003, S. 104–133.
  • S. French: Cynefin: repeatability, science and value. (PDF; 161 kB) European Working Group “Multiple Criteria Decision Aiding”. Series 3, nº 17, Spring 2008, S. 1–5.
  • Simon French, Carmen Niculae: Believe in the Model: Mishandle the Emergency. In: Journal of Homeland Security and Emergency Management. volume 2, issue 1, (2005), auch BELIEVE IN THE MODEL: MISHANDLE THE EMERGENCY.
  • Lauri Koskela, Mike Kagioglou: On the Metaphysics of Production (Memento vom 23. Juli 2008 im Internet Archive; PDF; 99 KB, englisch). Proceedings of the 13th Annual Conference on Lean Construction. 2006, S. 37–45.
  • C. Kurtz, D. Snowden: The New Dynamics of Strategy: Sense-making in a Complex-Complicated World. In: IBM Systems Journal. vol. 42, no. 3 2003, S. 462–83.
  • P. Lambe: Organising Knowledge: Taxonomies, Knowledge and Organisational Effectiveness. Chandos, Oxford 2007.
  • M. Lazaroff, D. Snowden: Anticipatory modes for counter terrorism. In: R. Popp, J. Yen (Hrsg.): Emergent Information Technologies and Enabling Policies for Counter-Terrorism. IEEE Press, Wiley, 2006.
  • A. Mark, D. Snowden: Researching practice or practising research - innovating methods in healthcare the contribution of Cynefin. Presented paper at the Organisational Behaviour in Health Care Conference on the theme of Innovation held by the Centre for Health and Policy Studies (CHAPS). University of Calgary at the Banff Centre Alberta Canada, 2004.
  • Jan Otten: Civiel-militaire samenwerking bij crisisbeheersing. In: Carré. 29 (11-12), 2006, S. 32–34.
  • Richard Shepherd, Gary Barker, Simon French, Andy Hart, John Maule, Angela Cassidy: Managing Food Chain Risks: Integrating Technical and Stakeholder Perspectives on Uncertainty. In: Journal of Agricultural Economics. Volume 57, Issue 2, 2006, S. 313–327.
  • D. Snowden: Cynefin: a sense of time and space, the social ecology of knowledge management. In: C. Despres, D. Chauvel (Hrsg.): Knowledge Horizons: The Present and the Promise of Knowledge Management. Butterworth-Heinemann, Oxford 2000.
  • D. Snowden: Multi-ontology sense making – a new simplicity in decision making (Memento vom 12. Februar 2012 im Internet Archive). In: Informatics in Primary Health Care. 2005.
  • D. Snowden: Perspectives Around Emergent Connectivity, Sense-Making and Asymmetric Threat Management. In: Public Money & Management. Volume 26 Issue 5, 2006, S. 275–277.
  • David J. Snowden, Mary E. Boone: A Leader’s Framework for Decision Making (Memento vom 20. August 2013 im Internet Archive; PDF; 253 KB). In: Harvard Business Review. November 2007, S. 69–76.
  • J. Verdon: Transformation in the CF, Concept towards a theory of Human Network-Enabled. (PDF; 5,2 MB) National Defence, Directory of Strategic Human Resources, Research Note, Ottawa Juli 2005.
  • A.J. Woodhill: Shaping behaviour - How institutions evolve. In: The Broker. Issue 10, Oktober 2008, S. 4–8.

Einzelnachweise

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  1. CognitiveEdge: The Cynefin Framework. 11. Juli 2010, abgerufen am 6. März 2019.
  2. a b Louisa-Jayne O’Neill: Faith and decision-making in the Bush presidency: The God elephant in the middle of America’s livingroom (Memento vom 3. November 2006 im Internet Archive; PDF; 413 KB, englisch). Emergence: Complexity and Organisation. Vol. 6, No. 1/2, S. 149–156.
  3. D. Snowden. (2000) “Cynefin, A Sense of Time and Place: an Ecological Approach to Sense Making and Learning in Formal and Informal Communities” conference proceedings of KMAC at the University of Aston, July 2000 and D. Snowden. (2000) “Cynefin: a sense of time and space, the social ecology of knowledge management”. In Knowledge Horizons : The Present and the Promise of Knowledge Management ed. C Despres & D Chauvel Butterworth Heinemann October 2000
  4. Boisot Knowledge Assets 1998
  5. D. Snowden (2005) “Multi-ontology sense making – a new simplicity in decision making” in Informatics in Primary Health Care 2005:13:00
  6. Mark, Annabelle L.: Notes from a Small Island: Researching Organisational Behaviour in Healthcare from a UK Perspective. In: Journal of Organizational Behavior. Band 27, Nr. 7, 2006, S. 851–867, doi:10.1002/job.414, JSTOR:4093874 (englisch).
  7. Simon French, Carmen Niculae: Believe in the Model: Mishandle the Emergency. In: Journal of Homeland Security and Emergency Management. Band 2, Nr. 1, 2005, doi:10.2202/1547-7355.1108 (englisch). BELIEVE IN THE MODEL: MISHANDLE THE EMERGENCY. Abgerufen am 25. Juni 2022.
  8. Shepherd, Richard. Barker, Gary. French, Simon. Hart, Andy. Maule, John. Cassidy, Angela. 2006. Managing Food Chain Risks: Integrating Technical and Stakeholder Perspectives on Uncertainty. Journal of Agricultural Economics. Volume 57, Issue 2, S. 313–327.
  9. Otten, Jan. 2006. Civiel-militaire samenwerking bij crisisbeheersing, Carré, 29 (11-12), S. 32–34.
  10. Martha van Biene: Beyond the standard question - narrative research into question-patterns. Hogeschool Arnhem-Nijmegen, 2008, ISBN 978-90-813751-1-5.
  11. David J. Snowden & Mary E. Boone: A Leader’s Framework for Decision Making. In: Harvard Business Review. November 2007, S. 69–76 (Online)
  12. obweb.org: Outstanding Practitioner Oriented Publication in OB (Memento vom 27. Juli 2011 im Internet Archive) (englisch)