Domizid

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Die Begriffe Domizid bzw. Urbizid (von lateinisch domus ‚Haus‘ bzw. lateinisch urbs ‚Stadt‘ und lateinisch caedere ‚morden‘, ‚metzeln‘) beschreiben mit leicht abweichenden Konnotationen denselben Sachverhalt: die systematische und großflächige Zerstörung von Wohnraum und ziviler Infrastruktur. Beim Begriff Domizid liegt der Schwerpunkt auf der Zerstörung von Gebäuden, Infrastruktur und Wohnraum, beim Begriff Urbizid liegt der Schwerpunkt auf der Zerstörung einer Stadt als geografischem und kulturellem Ort. Motive und historische Beispiele betreffen zumeist dieselben Vorkommnisse.

Der Domizid ist zu unterscheiden vom Demozid, welcher vorsätzliche Massentötungen von bestimmten Menschengruppen durch eine Regierung bezeichnet.

Definition[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Die Verwendung der Begriffe Domizid und Urbizid ist unscharf und weitestgehend synonym.[1][2] Die Begriffe beschreiben die „systematische Zerstörung von Gebäuden und materiellen sowie immateriellen, symbolischen Strukturen der Stadt [...], die darauf zielt, die Grundlagen des materiellen, sozialen und kulturellen städtischen Lebens intentional zu vernichten. Deshalb spielen dabei nicht nur Versorgungseinrichtungen eine Rolle, sondern gerade auch städtische Strukturen und Gebäude, die für die Gemeinschaft und ihre Vielfalt zentrale Bedeutung haben, also Plätze, Verbindungen oder identitätsstiftende Gebäude und Ensembles.“[1]

In der Fachliteratur werden zwei Formen von Domizid bzw. Urbizid unterschieden: Zum einen die Zerstörung von Wohnraum aus städteplanerischer Perspektive, zum anderen die Zerstörung im Kontext von Krieg, Vertreibung und Kolonialisierung (nach Porteous und Smith, die den Begriff in den Diskurs eingeführt haben, „extremer Domizid“). Die zunächst eingeführte Definition beider Begriffe betraf den ersten Aspekt.[1][3]

Die Begriffe heben hervor, dass nicht nur Gebäude als materieller Bestand zerstört werden, sondern auch das immaterielle, kulturelle Erbe und die kollektive Identität, die Geschichte, und das soziale Leben.[4] In kriegerischen Konflikten wird Domizid bzw. Urbizid verwendet, um die Bevölkerung zu demoralisieren oder kollektiv zu bestrafen.[3] Hier steht er auch in einem Zusammenhang mit Memorizid, der Auslöschung der kollektiven Erinnerung.[3] Zudem wird hervorgehoben, dass häufig im Zusammenhang mit einem Genozid bzw. so genannter „ethnischer Säuberung“ ein Domizid (oder Urbizid) stattfindet.[1]

‘Not only are houses destroyed, but also the prestige of the home. Not only are women and children murdered, but also the city itself, its rituals and ways of life. Not only are a particular group of people and its infrastructures assaulted, but also its history and collective memory.’

Keith Doubt (2007): Understanding Evil – Lessons from Bosnia. Fordham University Press, S. 120.

Verwendungsgeschichte[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Der Begriff Urbizid („urbicide“) wurde 1987 durch den Philosophen Marshall Berman im Zusammenhang mit der Erneuerung der Bronx in New York eingeführt, bei der alte Baustrukturen abgerissen wurden. In der Folge sollen 300.000 Menschen aus der Bronx verdrängt worden seien.[1] Der Begriff Domizid wurde erstmals 2001 von Douglas Porteous und Sandra Smith verwendet.[5] Auch wenn die Begriffe auch weiterhin in Zusammenhang mit radikalen städteplanerischen Maßnahmen verwendet werden, etwa mit Infrastrukturmaßnahmen im ländlichen China,[6] werden sie seit dem Jugoslawienkrieg und der systematischen Zerstörung von Infrastruktur und Städten in Bosnien zunehmend in Zusammenhang mit kriegerischen Konflikten verwendet.[1][7]

Beispiele und Diskurse[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Altertum[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Plünderungen und systematische Zerstörungen von Städten sind Bestandteil der Menschheitsgeschichte. Stephen Graham nennt die Zerstörung von Städten im Rahmen der Kriegsführung eine „seit über 8.000 Jahren Urbanisierungsgeschichte währende Konstante“.[1] Porteous nennt die Kriegsführung in Mesopotamien als exemplarisch; Henckel ergänzt beispielhaft die Zerstörung Jerusalems und die Zerstörung Karthagos.[1][3]

Kolonialisierung / Imperialismus[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Domizid bzw. Urbizid war und ist auch ein Instrument der Kolonialisierung bzw. des Imperialismus. Beispiele betreffen die Zerstörung indigener Siedlungen und Kultstätten in Amerika durch spanische Konquistadoren (z. B. die Zerstörung Tenochtitlans), aber auch die Zerstörung und Umstrukturierung Algiers n den 1830ern durch die Franzosen.[1][3]

20. und 21. Jahrhundert[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Der Luftangriff auf Guernica durch die deutsche Legion Condor gilt als exemplarisches Beispiel für die Zerstörung einer Stadt und seiner Zivilbevölkerung.[3]

Im Zweiten Weltkrieg wurden von allen Kriegsparteien Luftangriffe nicht nur auf militärische, sondern auch auf zivile Ziele geflogen. In der Nachbetrachtung werden diese auch als Domizid bzw. Urbizid bezeichnet. Beispielhaft werden die Angriffe auf Coventry, Dresden sowie die Atombombenabwürfe auf Hiroshima und Nagasaki genannt.[3][1]

Bosnien[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Durch die systematische Zerstörung von zivilen Zielen, Ortschaften und Städten im Jugoslawienkrieg – auch mit der Intention der Zerstörung des kulturellen Gedächtnis –, wurden die Begriffe Domizid und Urbizid popularisiert. Sinnbildlich hierfür steht die Zerstörung der Brücke von Mostar.[1] Im Zuge der ethnischen Säuberungen und Vertreibungen wurden Ortschaften in Bosnien systematisch zerstört. Der Kulturanthropologe Tone Bringa erläutert den demoralisierenden Charakter dieses Domizids: Die Häuser waren durch ihre Bewohner häufig in jahrelanger Arbeit erstellt worden. Sie dienten als Unterhaltsabsicherung und stellten auch einen symbolischen sozialen Wert dar („the house he managed to build symbolized his social worth; it was proof of his hard work and commitment to his family and their future well-being“).[8]

Rohingya[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Nasir Uddin verweist auf die systematische Enteignung und Vertreibung von Rohingya in Myanmar und bezeichnet diese unter anderem als Domizid, indem Lebensumstände derart gestaltet werden, dass ein sicheres Leben in dem Land nicht mehr möglich ist.[9]

Palästina[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Das israelische Vorgehen in den palästinensischen Gebieten wird auch rückblickend immer wieder als Urbizid oder Domizid bezeichnet.[10] Im Zusammenhang mit dem Krieg in Israel und Gaza seit 2023 wurde der israelischen Seite ein Domizid als Mittel der Kriegsführung vorgeworfen. Es sollen nicht nur die Tunnel der Hamas, sondern mitunter auch in gezielter Absicht Wohnhäuser infolge der massiven Bombardements zum Einsturz gebracht worden sein, was immer wieder menschliche Tragödien zur Folge hat. Laut Untersuchungen der Oregon State University waren im Mai 2024 mehr als die Hälfte der Häuser in Gaza schwer beschädigt oder vollständig zerstört. Zwei Millionen Menschen seien zu dem Zeitpunkt obdachlos.[11] Gemäß eines Berichts im Auftrag der Vereinten Nationen sind sechs Monate nach Beginn der Militäroffensive im Gazastreifen prozentual mehr Wohnungen und zivile Infrastrukturen zerstört worden als in jedem anderen bewaffneten Konflikt seit Menschengedenken.[12] Als Folge der weitreichenden Zerstörungen und aus Gründen der rechtlichen und moralischen Verantwortung fordern die UN-Experten entsprechende Reparationen seitens Israels und aller Länder, die den Krieg und die Besatzung militärisch, materiell und politisch unterstützt haben.[13]

Syrien[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Während des Bürgerkriegs in Syrien wurde zumindest 33 % des Wohnbestands in dem Land zerstört, dabei wurden auch gezielt die Infrastruktur, öffentliche Einrichtungen und Orte des kulturellen Erbes angegriffen. Besonders betroffen ist die Stadt Aleppo.[14]

Ukraine

Das Vorgehen der russischen Streitkräfte während des Angriffs auf die Ukraine wird auch als Urbizid bzw. Domizid klassifiziert. Es gehe dem Angreifer auch darum, die Städte, Bewohnbarkeit sowie das materielle und kulturelle Erbe des Landes zu zerstören.[15][16]

Rechtliche Einschätzung[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Der Angriff auf zivile Infrastruktur, Wohngebiete und die Zerstörung von Gebäuden gelten nach deutschem Recht als Kriegsverbrechen.[17]

Von zahlreichen UN-Experten wird der Domizid als Mittel der Kriegsführung sehr kritisch betrachtet. Bisher wird der Domizid nach internationalem Recht nicht eindeutig als Verbrechen gegen die Menschlichkeit eingestuft. Im Oktober 2023 legte der Sonderberichterstatter der Vereinten Nationen für das Recht auf Wohnraum einen Bericht an die UN vor, in dem er die Forderung darlegte, dass es sich hierbei um eine sehr große Gesetzeslücke handele, die unbedingt gefüllt werden müsse.[12] In Zusammenhang des Kriegs in Israel und Gaza (ab 2023) betonten Rechtswissenschaftler und andere Gelehrte, dass die systematische und wahllose Zerstörung ganzer Stadtviertel durch Sprengstoffwaffen als Verbrechen gegen die Menschlichkeit gewertet werden sollte. Dies gelte nicht nur im Gazastreifen, sondern ebenso in Städten wie Aleppo, Mariupol, Grosny oder in Myanmar.[12]

Literatur[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

  • Dietrich Henckel: Urbizid: Stadtmord. Eine Skizze. In: Leon Hempel, Marie Bartels, Thomas Markwart (Hrsg.): Aufbruch ins Unversicherbare. Zum Katastrophendiskurs der Gegenwart. Transcript, 2013, S. 397–420.
  • J. Douglas Porteous, Sandra E. Smith: Domicide: The Global Destruction of Home McGill-Queen's University Press, Montreal & Kingston, London, Ithaca, 2001.

Einzelnachweise[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

  1. a b c d e f g h i j k Dietrich Henckel: Urbizid: Stadtmord. Eine Skizze. In: Leon Hempel, Marie Bartels, Thomas Markwart (Hrsg.): Aufbruch ins Unversicherbare Zum Katastrophendiskurs der Gegenwart. transcript, 2013, S. 397–420.
  2. Destroying cities during war targets people's sense of home: architect. In: CBC Radio. 20. Juni 2022, abgerufen am 27. Mai 2024.
  3. a b c d e f g Douglas Porteous, Sandra E. Smith: Domicide: The Global Destruction of Home. McGill Queen's University Press, 2001.
  4. Klaus Englert: Ukrainische Stadt als Kriegsziel: Der Hass aufs Hybride. In: Die Tageszeitung: taz. 13. Juli 2022, ISSN 0931-9085 (taz.de [abgerufen am 27. Mai 2024]).
  5. John Vervaeke, Christopher Mastropietro, Filip Miscevic: Zombies in Western Culture. Open Book Publishers, Cambridge 2018, S. 35.
  6. Charlotte Bruckermann: Claiming Homes: Confronting Domicide in Rural China. In: Dislocations. Nr. 26, 2020.
  7. Netta Ahituv: Amid Israeli Destruction in Gaza, a New Crime Against Humanity Emerges: Domicide. Hrsg.: Lemkin Institute. 4. Januar 2024 (lemkininstitute.com [abgerufen am 27. Mai 2024]).
  8. Keith Doubt: Understanding Evil – Lessons from Bosnia. Fordham University Press, 119-120 2007.
  9. Nassir Udin: The Rohingya: An Ethnography of 'Subhuman' Life. 2020.
  10. Yara Saifi, Maha Samman: Housing in Jerusalem: From a Flourishing Hope to Slow “Urbicide”. In: Open House International. Band 44, Nr. 2, 2019, S. 27–35.
  11. Gaza: Domizid durch die israelische Armee? Weltspiegel vom 12. Mai 2024, abgerufen am 12. Mai 2024
  12. a b c Widespread destruction in Gaza puts concept of domicide in focus The Guardian vom 7. Dezember 2023, abgerufen am 12. Mai 2024
  13. Gaza: UN experts deplore use of purported AI to commit ‘domicide’ in Gaza, call for reparative approach to rebuilding Bericht des Büros des Hohen Kommissars der Vereinten Nationen für Menschenrechte vom 15. April 2024, abgerufen am 16. Mai 2024
  14. Joanna Kusiak, Ammar Azzouz: Comparative urbanism for hope and healing: Urbicide and the dilemmas of reconstruction in post-war Syria and Poland. In: Urban Studies. Band 60, Nr. 14, 2023, S. 2901–2918.
  15. Klaus Englert: Ukrainische Stadt als Kriegsziel: Der Hass aufs Hybride. In: Die Tageszeitung: taz. 13. Juli 2022, ISSN 0931-9085 (taz.de [abgerufen am 30. Mai 2024]).
  16. Kostyantyn Mezentsev, Oleksii Mezentsev: War and the city: Lessons from urbicide in Ukraine. In: czasopismo geograficzne | geographical journal (Polish Geographical Society). Band 93, Nr. 3, 2022, S. 495–521.
  17. BKA - Kriegsverbrechen im Zusammenhang mit dem Krieg in der Ukraine. Abgerufen am 30. Mai 2024.