Mythomotorik

aus Wikipedia, der freien Enzyklopädie
Zur Navigation springen Zur Suche springen

Mythomotorik bezeichnet in den Religions- und Kulturwissenschaften die als „kollektiv handlungsleitend“ verstandene Wirkung eines Mythos (Erzählung). Der deutsche Ägyptologe und Kulturwissenschaftler Jan Assmann übernahm den Begriff aus der Mythosforschung und vertiefte ihn in seiner Theorie des kulturellen Gedächtnisses. Geprägt wurde die Bezeichnung mythomoteur 1958 vom spanischen Historiker Ramon D’Abadal i de Vinyals (1888–1970).[1]

Nach Assmann kann die Mythomotorik von gemeinschaftlicher Erinnerung zwei gesellschaftspolitische Wirkungsrichtungen haben:[1]

  • fundierend: sie bestätigt und rechtfertigt die gegenwärtigen gesellschaftlichen Verhältnisse als sinnvoll, gottgewollt, notwendig und unabänderlich
  • kontrapräsentisch: sie stellt die bestehenden Zustände in Frage, beschwört eine bessere Vergangenheit und ruft zur Veränderung auf

Bezugnehmend auf den französischen Ethnologen Claude Lévi-Strauss (1908–2009) unterscheidet Assmann die mythomotorische Wirkung eines erinnerten und weitergegebenen Mythos als kalte oder heiße Kulturelemente des gesellschaftlichen Umgangs mit der betreffenden Vergangenheit:

  • in kalten Gesellschaften soll jeglicher sozialer Wandel durch den Einfluss vergegenwärtigter Erinnerung unterbunden werden
  • in heißen Gesellschaften soll die Vision, die in einem Mythos wirkt, den Wandel zu einer neuen, veränderten Gesellschaft beschleunigen

Sowohl die beabsichtigte Beschleunigung wie auch die Unterbindung gesellschaftlicher Entwicklung erfordert gleichsam die gezielte Formung des kollektiven Gedächtnisses durch und als mythische Erzählung (siehe auch Geschichtsmythos, Geschichtspolitik).

Das Prinzip der Mythomotorik gewinnt im Rahmen des interdisziplinären Themas der Erinnerungskulturen zunehmend an Bedeutung, weil es die Mechanismen von Gemeinschaftsbildung ebenso zu erklären versucht wie deren langfristiges Verhalten in religiösen, politischen und auch wirtschaftlichen Zusammenhängen. In jüngster Zeit wurden die Erkenntnisse dieser Forschungen unter der Zielsetzung der Handlungsbeeinflussung von Gemeinschaften (Communitys) auch in Politik und Wirtschaftspraxis eingeführt. So soll die sogenannte mythomotorische Positionierung von Politikern, Produkten oder ganzen Unternehmen die Wahl-, Investitions- oder Kaufentscheidung entsprechender Zielgruppen beeinflussen und deren Erinnerungen an die aus mythomotorischer Kommunikation gebildete „Marke“ gezielt formen (siehe auch Markenforschung).

  • Kommunikatives Gedächtnis (nach Assmann: mündliche Weitergabe von persönlichen Erfahrungen, umfasst rund 80 Jahre)
  • Identitätspolitik (von dominanten Gruppen zur Erhaltung, von dominierten Gruppen zur Änderung der Zustände benutzt)
  • Politischer Mythos (historisch-politische Erzählung mit kollektivem sinn- und identitätsstiftendem Wirkungspotential)
  • Erfundene Tradition (historische Fiktion: konstruierte Tradition, in eine Vergangenheit zurückprojiziert)
  • Jan Assmann: Frühe Formen politischer Mythomotorik. Fundierende, kontrapräsentische und revolutionäre Mythen. In: Dietrich Harth, Jan Assmann (Hrsg.): Revolution und Mythos. Fischer, Frankfurt 1992, ISBN 3-596-10964-7, S. 39–61 (PDF-Datei; 9,4 MB; 23 Seiten auf uni-heidelberg.de).
  • Jan Assmann: Das kulturelle Gedächtnis. Erinnerung und politische Identität in frühen Hochkulturen. 7. Auflage. Beck, München 2013, ISBN 978-3-406-56844-2, vor allem S. 78–86: Mythomotorik der Erinnerung (erstveröffentlicht 1992; Seitenansichten in der Google-Buchsuche).
  • Matthias Braunwarth: Gedächtnis der Gegenwart. Signatur eines religiös-kulturellen Gedächtnisses. Annäherung an eine Theologie der Relationierung und Relativierung (= Tübinger Perspektiven zur Pastoraltheologie und Religionspädagogik. Band 16). Lit, Münster u. a. 2002, ISBN 3-8258-5912-6, S. 124–129: Kapitel 4.3 Mythomotorik – oder von der Form und Funktion des Vergangenheitsbezuges (Doktorarbeit 2001 Universität Freiburg; Teilansicht in der Google-Buchsuche).
  • Claude Lévi-Strauss: Das wilde Denken. 9. Auflage. Suhrkamp, Frankfurt 1994, ISBN 3-518-27614-X (französisch 1962: La pensée sauvage).
  • Yuval Noah Harari: Eine kurze Geschichte der Menschheit. Übersetzung aus dem Englischen von Jürgen Neubauer. DVA, München 2013, ISBN 978-3-421-04595-9.

Einzelnachweise

[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]
  1. a b Jan Assmann: Das kulturelle Gedächtnis. Erinnerung und politische Identität in frühen Hochkulturen. 7. Auflage. Beck, München 2013, S. 80 (erstveröffentlicht 1992; Seitenansicht in der Google-Buchsuche): „Der Begriff »mythomoteur« wurde geprägt von Ramon D’Abadal i de Vinyals 1958 und von J. Armstrong 1983 sowie A. D. Smith 1986 aufgegriffen.“ Anmerkung: Ramon d’Abadal i de Vinyals (1888–1970) war katalanischer Historiker, Politiker und Journalist; John Alexander Armstrong (1922–2010) war amerikanischer Professor für Politikwissenschaft; Anthony D. Smith (* 1939) ist britischer Ethnograph und Professor für Nationalismus und Ethnizität.