Paradoxe Reaktion

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Als paradoxe Reaktion wird in der Medizin die Reaktion des Körpers auf einen Wirkstoff bezeichnet, die das Gegenteil des beabsichtigten Effekts bewirkt. Beispiele sind etwa das Auftreten von Schlaflosigkeit nach der Einnahme eines Schlafmittels oder von vermehrter Angst nach der Gabe eines angstlösenden Medikaments.

Von der paradoxen Reaktion abzugrenzen sind immunologische Arzneimittelreaktionen sowie Effekte, die nach Toleranzentwicklung (vgl. Entzugssyndrom) auf bestimmte Substanzen entstehen. Auch die Erhöhung der Suizidgefahr in der Anfangsphase der Gabe von bestimmten Antidepressiva ist keine paradoxe Reaktion im eigentlichen Sinne.[1]

Bekannte Beispiele

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Eine paradoxe Reaktion von weitreichender Bedeutung ist Schmerzüberempfindlichkeit durch langanhaltende oder fortlaufend gesteigerte Behandlung mit Opioiden. Hier werden unter anderem epigenetische Prozesse vermutet.[2]

Paradoxe Reaktionen sind unter anderem häufig bei von ADS/ADHS betroffenen Personen zu beobachten.[3] Auch bei 1,2 % der Kinder, die vor diagnostischen Eingriffen den Wirkstoff Phenobarbital erhalten haben, wird eine paradoxe Reaktion beschrieben.[4] Ebenfalls bei Benzodiazepinen können solche Reaktionen beobachtet werden.[5] Der umgekehrte Effekt, dass nämlich eine stimulierende Substanz auch dämpfend wirken kann, wurde bei Coffein beschrieben.[6]

GABAA-Rezeptor mit Bindungsstellen verschiedener Substanzen.

Der Mechanismus einer paradoxen Reaktion beim Menschen konnte bislang (Stand 2019) noch in keinem einzigen Fall vollständig aufgeklärt werden. Dies liegt daran, dass der Signalverkehr einzelner Nervenzellen im hier maßgeblichen subkortikalen Bereich beim Menschen in aller Regel nicht zugänglich ist.

Es bestehen jedoch vielfältige Hinweise, dass bei den paradoxen Reaktionen auf – unter anderem – Benzodiazepine, Barbiturate, Inhalationsanästhetika, Propofol, Neurosteroide und Alkohol (Ethanol), bestimmte strukturelle Abweichungen bei GABAA-Rezeptoren vorliegen. Die Zusammenstellung der fünf Untereinheiten des Rezeptors (siehe Abbildung) kann so verändert sein, dass zum Beispiel die Reaktion des Rezeptors auf GABA unverändert bleibt, die Reaktion auf eine der genannten anderen Substanzen jedoch drastisch verändert ist.

Man schätzt, dass ca. 2–3 % der Bevölkerung durch solche Veränderungen zum Beispiel schwerwiegende emotionale Störungen erleiden können und bis zu 20 % mäßige Störungen dieser Art. Es wird davon ausgegangen, dass genetische und auch epigenetische Abweichungen den Veränderungen der GABAA-Rezeptoren zugrunde liegen. Es gibt Anzeichen, dass letztere unter anderem durch sozialen Stress oder Burn-out ausgelöst werden können.[7][8][9][10]

Einzelnachweise

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  1. Rote Liste 2011. Frankfurt, 2011.
  2. D. Reddy, J. R. Wickman, S. K. Ajit: Epigenetic regulation in opioid induced hyperalgesia. In: Neurobiology of pain. Band 14, 2023, S. 100146, doi:10.1016/j.ynpai.2023.100146, PMID 38099284, PMC 1071958 (freier Volltext) (Review).
  3. B. Langguth, R. Bär, N. Wodarz, M. Wittmann, R. Laufkötter: Paradoxical reaction in ADHD. In: Deutsches Ärzteblatt international. Band 108, Nummer 31–32, August 2011, S. 541; author reply 541–541; author reply 542, doi:10.3238/arztebl.2011.0541a, PMID 21886668, PMC 3163785 (freier Volltext), Version auf Deutsch.
  4. V. E. Karian, P. E. Burrows, D. Zurakowski, L. Connor, K. P. Mason: Sedation for pediatric radiological procedures: Analysis of potential causes of sedation failure and paradoxical reactions. In: Pediatr Radiol. 29, 1999, S. 869–873.
  5. C. Robin, N. Trieger: Paradoxical reactions to benzodiazepines in intravenous sedation: a report of 2 cases and review of the literature. In: Anaesth Prog. 49, 2002, S. 128–132.
  6. J. T. Rubin, R. B. Towbin, M. Bartko, K. M. Baskin, A. M. Cahill, R. D. Kaye: Oral and intravenous caffeine for treatment of children with post-sedation paradoxical hyperactivity. In: Pediatric radiology. Band 34, Nummer 12, Dezember 2004, S. 980–984, doi:10.1007/s00247-004-1303-8, PMID 15365651.
  7. C. Robin, N. Trieger: Paradoxical reactions to benzodiazepines in intravenous sedation: a report of 2 cases and review of the literature. In: Anesthesia progress. Band 49, Nummer 4, 2002, S. 128–132, PMID 12779114, PMC 2007411 (freier Volltext) (Review).
  8. Carol Paton: Benzodiazepines and disinhibition: a review. In: Psychiatric Bulletin. 26, 2002, S. 460, doi:10.1192/pb.26.12.460, PDF.
  9. T. Bäckström, M. Bixo, M. Johansson, S. Nyberg, L. Ossewaarde, G. Ragagnin, I. Savic, J. Strömberg, E. Timby, F. van Broekhoven, G. van Wingen: Allopregnanolone and mood disorders. In: Progress in neurobiology. Band 113, Februar 2014, S. 88–94, doi:10.1016/j.pneurobio.2013.07.005, PMID 23978486 (Review), PDF.
  10. E. N. Brown, R. Lydic, N. D. Schiff: General anesthesia, sleep, and coma. In: The New England Journal of Medicine. Band 363, Nummer 27, Dezember 2010, S. 2638–2650, doi:10.1056/NEJMra0808281, PMID 21190458, PMC 3162622 (freier Volltext) (Review).